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"Umverteilung" - das falsche Label

 

Vermögensungleichheit in Deutschland

Warum es kein Umverteilungs-, sondern ein Teilhabeproblem ist

Die Vermögensungleichheit in Deutschland wird regelmäßig mit eindrucksvollen Zahlen illustriert: Die reichsten zehn Prozent der Haushalte besitzen rund zwei Drittel des Nettovermögens, während die untere Hälfte faktisch über kein nennenswertes Vermögen verfügt. Diese Befunde sind empirisch gut abgesichert, etwa durch die Vermögenserhebungen der Deutschen Bundesbank. Dennoch bleibt die öffentliche Debatte auffällig oberflächlich. Sie kreist um „Umverteilung“, moralische Appelle und Neiddebatten – und verfehlt dabei die eigentliche Funktionslogik dieser Ungleichheit.

Das zentrale Problem ist nicht Umverteilung, sondern mangelnde Teilhabe an der laufenden Wertschöpfung.


1. Produktivität wächst – Arbeitseinkommen nicht

Seit den 1990er Jahren ist die Arbeitsproduktivität in Deutschland deutlich gestiegen. Nach Daten von Destatis und der OECD nahm die reale Wertschöpfung pro Arbeitsstunde kontinuierlich zu. Im gleichen Zeitraum entwickelten sich die realen Bruttolöhne jedoch deutlich schwächer. Die Folge ist eine langfristige Verschiebung der funktionalen Einkommensverteilung.

Die Lohnquote – der Anteil der Arbeitseinkommen am Volkseinkommen – ist seit den 1980er Jahren gesunken bzw. verharrt auf einem historisch niedrigen Niveau. Spiegelbildlich stieg der Anteil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen.
Diese Entwicklung ist kein statistischer Effekt, sondern Ausdruck einer strukturellen Asymmetrie:
Löhne sind institutionell begrenzt, Gewinne prinzipiell unbegrenzt.

Quelle:

  • Destatis: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen

  • OECD (2023): Labour share developments


2. Vorverteilung statt Umverteilung

Ökonomisch entscheidend ist nicht die nachträgliche Umverteilung durch Steuern und Transfers, sondern die Primärverteilung im Produktionsprozess. Dort wird festgelegt, wem Einkommen überhaupt zufließt. Arbeit wird als Kostenfaktor vergütet, Kapital als Anspruchstitel auf den Überschuss.

Die politische Fixierung auf Umverteilung erfüllt eine entlastende Funktion:
Sie verschiebt die Gerechtigkeitsfrage von den Eigentumsverhältnissen auf individuelle Leistungs- und Konsumentscheidungen. Wer jedoch keine Produktionsmittel besitzt, kann am Produktivitätsfortschritt nur indirekt und begrenzt partizipieren – unabhängig von individueller Anstrengung.

Diese Logik erklärt, warum selbst Vollzeiterwerbstätigkeit zunehmend nicht mehr zur Vermögensbildung reicht.

Quelle:

  • OECD (2022): In It Together: Why Less Inequality Benefits All


3. Das implizite bedingungslose Grundeinkommen des Kapitals

In der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen wird häufig über Arbeitsanreize gestritten. Dabei wird übersehen, dass ein solches Einkommen faktisch bereits existiert – allerdings exklusiv für Vermögensbesitzer.

Erben, Großaktionäre, Immobilienbesitzer und vermögende Unternehmer erzielen regelmäßig Einkommen ohne eigene Arbeitsleistung. Diese Einkommen sind:

  • leistungsunabhängig

  • rechtlich abgesichert

  • intergenerational reproduzierbar

Nach Berechnungen des DIW werden in Deutschland jährlich Vermögenswerte von über 300 Milliarden Euro vererbt – mit stark regressiver Verteilungswirkung. Gleichzeitig ist Deutschland eines der wenigen OECD-Länder ohne substanzielle Vermögenssteuer. Große Vermögen werden zudem durch Ausnahmeregelungen bei der Erbschaftsteuer effektiv geschont.

Das Ergebnis ist eine paradoxe Ordnung:
Leistungsloses Einkommen ist strukturell abgesichert – Arbeitseinkommen strukturell riskant.

Quelle:

  • DIW (2023): Erbschaften und Vermögensungleichheit in Deutschland

  • Bundesbank: Private Haushalte und ihre Finanzen (PHF)


4. Arbeit als Verbrauchsgut

Unter diesen Bedingungen wird Arbeit funktional zu einem Verbrauchsgut. Solange Arbeitskraft produktiv eingesetzt werden kann, ist sie erwünscht. Fällt sie durch Krankheit, Alter oder Strukturwandel aus, wird sie zum Kostenproblem. Der Sozialstaat kompensiert diesen Ausfall nur begrenzt und zunehmend restriktiv.

Sozialleistungen wirken daher weniger als Instrument gesellschaftlicher Teilhabe, sondern als Reparaturbetrieb eines Arbeitsmarktes, der Menschen primär nach Verwertbarkeit bewertet. Sozialkürzungen bei gleichzeitiger Schonung großer Vermögen erscheinen in dieser Logik nicht als moralisches Versagen, sondern als konsequente Prioritätensetzung:
Arbeit ist Kostenfaktor, Kapital ist Standortfaktor.


5. Philosophische Zuspitzung: Eigentum ohne Leistung, Leistung ohne Eigentum

Die Legitimation dieser Ordnung ist philosophisch fragil. Klassische Eigentumstheorien – etwa bei John Locke – begründen Eigentum durch Arbeit. Eigentum entsteht durch Aneignung mittels eigener Leistung. In der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung ist dieses Verhältnis umgekehrt: Eigentum erlaubt die Aneignung fremder Arbeit, ohne selbst zu arbeiten.

Auch aus einer egalitaristischen Perspektive, etwa bei John Rawls, ist diese Struktur kaum zu rechtfertigen. Ungleichheiten sind nur dann legitim, wenn sie auch den am schlechtesten Gestellten zugutekommen. Empirisch ist jedoch kein signifikanter Trickle-down-Effekt steigender Kapitalerträge nachweisbar.

In diesem Sinne wirkt Marx’ Analyse weniger ideologisch als oft behauptet:
Die Trennung von Arbeit und Eigentum ist keine moralische Anklage, sondern eine strukturelle Beschreibung moderner Produktionsverhältnisse.


6. Fazit: Gerechtigkeit beginnt vor dem Steuerbescheid

Die Vermögensungleichheit in Deutschland ist kein Betriebsunfall, sondern Ergebnis einer institutionell fixierten Vorverteilung. Kapital erhält ein bedingungsloses Einkommen, Arbeit eine begrenzte Kostenpauschale. Solange diese Logik unangetastet bleibt, werden Debatten über Umverteilung, Leistungsgerechtigkeit und Sozialneid ins Leere laufen.

Eine ernsthafte Diskussion über Gerechtigkeit muss dort ansetzen, wo Wert entsteht:
bei Eigentum, Teilhabe und der systematischen Kopplung von Arbeit und Wohlstand. Alles andere bleibt kosmetische Korrektur an einer strukturell schiefen Ordnung.


Quellen (Auswahl)

  • Deutsche Bundesbank: Private Haushalte und ihre Finanzen (PHF)

  • Destatis: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen

  • OECD (2022): In It Together – Why Less Inequality Benefits All

  • OECD (2023): Labour Share Developments

  • Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW): Erbschaften und Vermögensverteilung in Deutschland

  • Rawls, J.: A Theory of Justice

  • Locke, J.: Second Treatise of Government




Redaktionelle Vorbemerkung zum Addendum:
Nach Veröffentlichung und Verbreitung dieses Beitrags bin ich auf statistische Auswertungen gestoßen, die eine im ersten Entwurf meines Textes benutzte Metapher ("Milchkuh") unerwartet präzise untermauern. Da sie den zentralen Gedanken der mangelnden Teilhabe an Produktivitätsgewinnen nicht relativieren, sondern zuspitzen, habe ich mich entschieden, den folgenden Nachtrag anzufügen.

Addendum


Die Milchkuh-Metapher – empirisch ernster, als beabsichtigt


Im ursprünglichen Text habe ich eine Metapher verwendet, die bewusst zugespitzt war:
die arbeitende Bevölkerung als „Milchkühe“ eines Systems, das stetig Produktivität abschöpft, ohne proportional Teilhabe zu gewähren.
Was als Bild gedacht war, erweist sich bei näherem Hinsehen als unbeabsichtigt präzise.

Eine nachträgliche Recherche – unter anderem über eine statistische Zusammenstellung von Perplexity – zeigt: Milchkühen geht es, gemessen an Teilhabe an Produktivitätsgewinnen, tatsächlich besser als der arbeitenden Bevölkerung.

Produktivität und Haltung steigen

In der Milchwirtschaft ist seit Jahrzehnten ein klarer Trend zu beobachten:

Die Milchleistung pro Kuh ist kontinuierlich gestiegen.

Gleichzeitig wurde die Qualität des Futters systematisch verbessert.

Die „Haltungskosten“ pro Tier – also Ernährung, Gesundheitsmanagement, Zucht – sind mit der Produktivität mitgewachsen.

Kurz gesagt:
Steigende Leistung wurde nicht isoliert maximiert, sondern mit steigenden Investitionen in die Produktionsbedingung „Kuh“ flankiert.

Das Ergebnis ist ein rationales Produktionsmodell:
Eine Kuh, die mehr Milch geben soll, muss besser versorgt werden – sonst bricht die Leistung ein oder das System kollabiert.

Der entscheidende Unterschied zur menschlichen Arbeitskraft

Genau hier liegt der Kontrast zur menschlichen Ökonomie.

Auch dort ist die Produktivität pro Arbeitsstunde gestiegen.
Anders als bei Milchkühen jedoch gilt für Menschen:

steigende Produktivität

bei stagnierenden oder real sinkenden Anteilen am erzeugten Mehrwert

bei gleichzeitiger Erosion sozialer Sicherheiten

Während in der Milchwirtschaft klar ist, dass höhere Leistung bessere „Haltung“ erfordert, gilt in der Arbeitswelt oft das Gegenteil:
Produktivitätsgewinne werden externalisiert, Arbeitskraft wird verdichtet, flexibilisiert und bei Bedarf ersetzt.

Die Kuh ist Investitionsgut.
Der Mensch ist Kostenfaktor.

Eine unbequeme Pointe

Die Metapher kippt damit in eine unbequeme Pointe:
In einem rein ökonomischen Effizienzsystem wird mit Milchkühen rationaler umgegangen als mit Menschen.

Nicht aus Humanität, sondern aus Systemlogik:
Eine schlecht ernährte Kuh produziert weniger Milch.
Ein überlasteter Mensch kann dennoch weiter funktionieren – zumindest eine Zeit lang.

Die Konsequenzen (Burnout, Krankheit, Erwerbsarmut, soziale Destabilisierung) werden nicht dem Produktionsprozess zugerechnet, sondern an den Sozialstaat delegiert.

Rückbindung an die Kernthese

Dieses Addendum bestätigt die zentrale These des ursprünglichen Textes:
Das Problem ist nicht mangelnde Leistung, sondern mangelnde Teilhabe an Produktivitätsgewinnen.

Wo selbst Nutztiere systematisch an Effizienzgewinnen beteiligt werden, während Menschen davon abgekoppelt bleiben, liegt kein moralisches Versagen Einzelner vor, sondern ein strukturelles Defizit der Verteilungslogik.

Oder anders formuliert:
Wenn selbst Kühe Anspruch auf besseres Futter haben, sobald sie mehr leisten, dann ist die Frage nicht, warum Menschen „mehr fordern“,
sondern warum ihnen weniger zugestanden wird als einem Produktionsfaktor im Stall.


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