Die falsche Frage nach der Simulation
Die Frage, ob wir in einer Simulation leben, wird seit Jahren mit erstaunlichem Ernst diskutiert. Sie beschäftigt Philosophen, Physiker, Tech-Visionäre und Science-Fiction-Autoren gleichermaßen. Und doch ist sie – bei genauer Betrachtung – falsch gestellt.
Nicht, weil sie „verrückt“ wäre. Sondern weil sie an der entscheidenden Stelle ansetzt, an der es gar nichts zu untersuchen gibt.
Wahrnehmung ist keine Abbildung
Unsere Wahrnehmung der Realität entsteht nicht durch direkten Zugriff auf eine objektive Außenwelt. Sie entsteht durch Interpretation.
Sinnesorgane registrieren physikalische Reize – elektromagnetische Wellen, Druckveränderungen, chemische Moleküle. Diese Signale werden ins Gehirn geleitet, dort verarbeitet, gewichtet, ergänzt, gefiltert. Erst am Ende dieses Prozesses entsteht das, was wir „Welt“ nennen.
Ein triviales, aber aufschlussreiches Beispiel:
Grün ist nicht grün. Grün ist elektromagnetische Strahlung bestimmter Wellenlängen, ungefähr um 550–570 Nanometer. Die Farbe selbst existiert nicht draußen. Sie entsteht als Erlebnis im Gehirn.
Dasselbe gilt für Klang, Geschmack, Wärme, Raum, Bewegung – selbst für Zeit.
Optische Täuschungen sind kein Sonderfall
Optische Täuschungen werden oft als Beweis dafür angeführt, dass das Gehirn manchmal falsch interpretiert. Tatsächlich zeigen sie etwas anderes: Sie zeigen, dass das Gehirn immer interpretiert.
Täuschungen sind kein Defekt des Systems, sondern ein Blick auf seinen Normalbetrieb. Sie machen sichtbar, dass Wahrnehmung auf Annahmen beruht: über Lichtquellen, Perspektiven, Objektgrenzen, Wahrscheinlichkeiten. Wenn diese Annahmen nicht zum Reiz passen, entsteht eine Täuschung – nicht, weil das Gehirn versagt, sondern weil es modelliert.
Die Welt existiert als Modell
Daraus folgt ein unbequemer, aber unvermeidlicher Schluss:
Unser gesamtes Bild von der Welt existiert als Abbild im Gehirn.
Wir haben keinen direkten Zugriff auf eine „Realität an sich“. Alles, was wir erleben, ist das Ergebnis neuronaler Konstruktion. Selbst der Gedanke, dass „da draußen etwas ist“, entsteht innerhalb dieses Konstrukts.
Wir sind darauf angewiesen, dieses Modell zunächst zu glauben – nicht aus Naivität, sondern aus Notwendigkeit. Ohne dieses Vertrauen wäre Handeln unmöglich.
Die Simulation ist nicht draußen
Damit kippt die klassische Simulationsfrage vollständig.
Die relevante Frage ist nicht:
Leben wir in einer Simulation?
Denn sie unterstellt, dass die Simulation irgendwo außerhalb von uns stattfindet – technisch erzeugt, künstlich übergestülpt, ontologisch zweitrangig.
Die sinnvoll gestellte Frage lautet:
Wie gut ist die Simulation der Realität durch unser Gehirn?
Die Simulation ist nicht im „Draußen“ zu verorten. Sie ist im Nervensystem selbst angesiedelt. Sie ist kein hypothetisches Zukunftsszenario, sondern die Grundbedingung bewussten Lebens.
Wahrheit als Funktion, nicht als Abbild
Dabei geht es nicht um Wahrheit im metaphysischen Sinn. Evolutionär betrachtet muss Wahrnehmung nicht wahr sein – sie muss funktionieren.
Sie muss stabil genug sein, um Orientierung zu ermöglichen.
Konsistent genug, um Vorhersagen zu erlauben.
Flexibel genug, um sich anzupassen.
Dass sie dabei verzerrt, vereinfacht, ausblendet, ergänzt, ist kein Fehler, sondern ihr Zweck.
Die peinliche Klarheit
In diesem Licht wirkt die ursprüngliche Frage fast peinlich. Nicht, weil sie dumm wäre, sondern weil ihre Antwort so offensichtlich ist.
Ja, wir leben in einer Simulation.
Aber nicht, weil uns jemand simuliert.
Sondern weil Wahrnehmung Simulation ist.
Unwidersprochen.
Addendum:
Der Baum im Wald – eine falsch verstandene Frage
Die oft zitierte Frage, ob ein Baum, der im Wald umfällt, ein Geräusch macht, wenn niemand in der Nähe ist, gilt als philosophisches Gedankenexperiment. In Wirklichkeit ist sie längst beantwortet – zumindest, wenn man die Konsequenzen der bisherigen Überlegungen ernst nimmt.
Die Antwort lautet: Nein.
Und zwar aus einem sehr einfachen Grund: Der Baum macht auch dann kein Geräusch, wenn jemand direkt daneben steht.
Was ein Geräusch ist – und was nicht
„Geräusch“ ist kein physikalisches Objekt. Es ist kein Bestandteil der Außenwelt.
Was physikalisch existiert, sind Druckschwankungen in einem Medium – meist Luft –, ausgelöst durch den fallenden Baum. Diese Luftschwingungen lassen sich messen, aufzeichnen, analysieren. Aber sie sind noch kein Geräusch.
Erst wenn diese Schwingungen:
-
das Trommelfell erreichen,
-
über Hammer, Amboss und Steigbügel mechanisch verstärkt werden,
-
in der Gehörschnecke in neuronale Signale übersetzt werden,
-
und schließlich im Gehirn als Bedeutung interpretiert werden,
entsteht das, was wir „Geräusch“ nennen.
Ohne diesen letzten Schritt gibt es kein Geräusch – nur physikalische Vorgänge.
Das Medium ist nicht das Erleben
Der Einwand, dass es im Vakuum ohnehin keinen Schall gäbe, ist korrekt, aber zweitrangig. Entscheidend ist nicht das Medium, sondern die Kategorie.
So wie „Grün“ nicht in der elektromagnetischen Welle steckt, sondern im Gehirn entsteht, steckt auch das „Geräusch“ nicht in der Luftschwingung. Es ist ein Erlebnis, kein Ereignis der Außenwelt.
Die Luft kann schwingen.
Der Baum kann fallen.
Aber das Geräusch entsteht erst im Nervensystem.
Die Pointe der falschen Intuition
Die klassische Intuition sagt:
„Natürlich macht der Baum ein Geräusch – wir hören es nur nicht.“
Diese Intuition verwechselt zwei Ebenen:
-
physikalische Prozesse
-
erlebte Phänomene
Physikalisch passiert etwas – unbestritten.
Phänomenologisch passiert nichts, solange niemand hört.
Das ist kein Sprachspiel und kein semantischer Trick. Es ist die logische Konsequenz dessen, was wir über Wahrnehmung gelernt haben.
Konsequente Schlussfolgerung
Der fallende Baum macht kein Geräusch,
weil Geräusch kein Außenweltereignis ist,
sondern eine neuronale Konstruktion.
So wie Farbe, Klang, Wärme, Geschmack, Raum und Zeit.
Damit ist auch dieses alte Gedankenexperiment nicht mehr rätselhaft, sondern banal – im präzisesten Sinn des Wortes. Es bestätigt erneut, was sich bereits gezeigt hat:
Die Welt, wie wir sie erleben, entsteht nicht draußen.
Sie entsteht im Gehirn.
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