Freiheit = Verantwortung — Teil VII
(Die Verantwortung in Systemen, die Verantwortung verhindern)
Es gibt eine paradoxe Szene im politischen Selbstverständnis moderner Demokratien:
Wir werden dazu erzogen, das Kreuz auf dem Wahlzettel als Akt der Freiheit zu begreifen und als Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Wählen, so heißt es, ist die elementare Form politischer Teilhabe. Wer nicht wählt, verweigert Verantwortung; wer wählt, gestaltet die Zukunft.
Doch kaum ist der Zettel gefaltet und eingeworfen, meldet sich ein anderes Gefühl:
Nicht wir haben entschieden, was geschieht, sondern nur, wer im Namen eines Systems agiert, das von Kräften geprägt wird, die auf keinem Stimmzettel stehen. In dieser Diskrepanz beginnt das Dilemma.
1. Das doppelte Versprechen
Die parlamentarische Demokratie spricht mit gespaltener Zunge.
Sie sagt: Du bestimmst die Richtung.
Und zugleich: Du gibst Macht ab, die du nicht zurückholen kannst.
Es ist eine Verantwortung, die im Moment ihrer Ausübung in Delegation umschlägt.
Wir sollen frei sein – aber bitte innerhalb eines Mechanismus, der unser Handeln sofort in institutionelle Abläufe überführt, die wir weder kontrollieren noch korrigieren können.
So entsteht ein Ritual, das sich anfühlt wie Freiheit, aber nach Verantwortung riecht, während es in seiner Struktur beides unterminiert.
2. Der nicht wählbare Teil der Wahl
Wahlen entscheiden über Personen, nicht über die Machtfelder, die sie umgeben:
ökonomische Interessen, internationale Abhängigkeiten, Parteidisziplin, mediale Schwerkraft.
Der Souverän trifft scheinbar Entscheidungen, aber die Architektur des Handelns entsteht an anderer Stelle. Wir wählen Stellvertreter – und bekommen stattdessen ein Geflecht aus Zwängen.
Das erzeugt eine seltsame Schieflage:
Das System verlangt von uns Verantwortung für etwas, das wir real nicht steuern können.
So wird Verantwortung zur Simulation, eine Art moralisches Hologramm, das uns vorgaukelt, wir seien Teil eines Prozesses, dessen wesentliche Impulse längst jenseits unserer Reichweite liegen.
3. Das Carlin’sche Dilemma
Der amerikanische Comedian George Carlin, der das Geschäft mit der Illusion durchschaute, sagte sinngemäß:
„Ich wähle nicht. Die Wähler sind schuld an dem, was passiert. Ich halte mich da raus.“
Seine Pointe ist bitter:
Wer wählt, trägt Mitschuld;
wer nicht wählt, trägt Mitschuld durch Unterlassung.
Es gibt keinen moralisch sauberen Ort außerhalb des Spiels.
Damit wird das Problem nicht politisch, sondern existenziell:
Wie kann man Verantwortung übernehmen, wenn die Struktur jede echte Einflussnahme verhindert?
4. Verantwortung jenseits des Kreuzchens
Vielleicht liegt die Lösung darin, den Ort der Verantwortung zu verschieben.
Nicht auf den Wahlakt selbst – dieser ist nur eine formale Geste –,
sondern auf die Zeit zwischen den Wahlen.
Verantwortung heißt dann nicht: ein Kreuz zu machen.
Verantwortung heißt: sichtbar bleiben, kritisch bleiben, handlungsfähig bleiben.
Wählen wird damit entzaubert:
ein Instrument zur Schadensbegrenzung, nicht zur Gestaltung.
Eine administrative Notwendigkeit, kein Ausdruck von Freiheit.
Die eigentliche politische Freiheit beginnt dort, wo man sich dem Anspruch entzieht, alle vier Jahre den moralischen Kern seines Handelns in eine Urne zu werfen.
5. Freiheit als innerer Akt, nicht als institutioneller Auftrag
Wenn Verantwortung ein innerer Prozess ist – ein aktives, waches Verhältnis zur Welt –,
dann kann sie nicht delegiert werden, auch wenn das System Delegation erzwingt.
Man kann einem Parlament Macht übergeben,
aber nicht die eigene Haltung.
Man kann einem Vertreter eine Aufgabe geben,
aber nicht das Denken abtreten.
Und genau darin liegt die immanente Antwort auf das Paradox:
Die Verantwortung bleibt bei uns, auch wenn wir sie formal delegieren müssen.
Wählen ist dann kein moralisches Bekenntnis mehr,
sondern ein technischer Vorgang innerhalb eines größeren persönlichen Verantwortungsraumes.
6. Die Freiheit, die zurückbleibt
Vielleicht ist das die ehrlichste Form moderner politischer Mündigkeit:
zu wissen, dass das System nicht die volle Freiheit ermöglicht,
aber dennoch nicht zu verstummen.
Die Freiheit liegt nicht im Akt der Wahl, sondern im Akt der Selbstbehauptung:
in der Entscheidung, den eigenen moralischen Kompass nicht einem Apparatswesen zu überlassen, das unweigerlich von Interessen gesteuert wird, die sich unserem Zugriff entziehen.
Zwischen Delegation und Ohnmacht bleibt ein Rest:
die Freiheit, nicht aus dem Denken auszusteigen.
Und in ihr beginnt die Verantwortung, die das System nicht einfordern kann –
aber ohne die es keine Zukunft gibt.
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