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Die Geschichte der Dämonisierung

1. Platon / Sokrates gegen die Schrift (ca. 370 v. Chr.)

Quelle: Phaidros

Kritik:
Schrift zerstöre das Gedächtnis
Sie erzeuge nur den Schein von Wissen
Geschriebenes könne nicht antworten oder sich verteidigen
Kernargument:
Erkenntnis müsse dialogisch und lebendig sein; externalisierte Speicherung führe zu geistiger Trägheit.
Ironie:
Wir kennen diese Kritik ausschließlich, weil Platon sie aufgeschrieben hat.

2. Mittelalterliche Geistlichkeit gegen den Buchdruck (15. Jh.)

Innovation: Gutenbergs Druckpresse
Kritik:
Verlust der Deutungshoheit
Häresien verbreiten sich unkontrolliert
„Ungebildete“ könnten Texte missverstehen
Kernargument:
Wissen ohne institutionelle Kontrolle gefährdet Ordnung und Wahrheit.
Folge:
Reformation, Aufklärung, Alphabetisierung.

3. Renaissance-Humanisten gegen den „Zahlenwahn“

Innovation: Mathematik, Statistik, frühe Naturwissenschaft
Kritik:
Reduktion der Welt auf Quantifizierbares
Verlust von Sinn, Qualität, Moral
Kernargument:
Zahlen töten Bedeutung; der Mensch werde zum Objekt.
(Argumente, die heute nahezu wortgleich gegen Algorithmen verwendet werden.)

4. Rousseau gegen Wissenschaft und Fortschritt (18. Jh.)

Quelle: Discours sur les sciences et les arts
Kritik:
Wissenschaft mache den Menschen nicht besser, sondern eitel
Fortschritt zerstöre natürliche Tugend
Kernargument:
Zivilisation entfremdet den Menschen von sich selbst.
Wichtig:
Kein Technikverweigerer – sondern Kulturkritiker. Wird heute oft verkürzt zitiert.

5. Romantik gegen Industrialisierung (19. Jh.)

Innovation: Maschinen, Fabriken, Urbanisierung
Kritik:
Entzauberung der Welt
Verlust von Ganzheit, Natur, Seele
Kernargument:
Mechanisierung vernichtet das Organische.
Langzeitwirkung:
Dieses Denken prägt bis heute Technikdebatten emotional.

6. Zeitungen & Romane als „Verderber der Jugend“ (18.–19. Jh.)

Innovation: Massenmedien, Unterhaltungsliteratur
Kritik:
Reizüberflutung
Realitätsflucht
Moralischer Verfall
Kernargument:
Passiver Konsum schwächt Charakter und Urteilsfähigkeit.

7. Radio & Fernsehen (20. Jh.)

Innovation: Elektronische Massenmedien
Kritik:
Manipulation
Gleichschaltung
Ende des Lesens / Denkens
Kernargument:
Bild und Ton ersetzen eigenes Denken durch Suggestion.
(Adorno ist hier die Schlüsselfigur.)

8. Computer & Internet (ab 1980er)

Innovation: Digitale Vernetzung
Kritik:
Verkürzte Aufmerksamkeit
Verlust von Tiefe
Entkörperlichung von Beziehungen
Kernargument:
Information ersetzt Weisheit.

9. KI heute

Innovation: Generative, autonome Systeme
Kritik (wiederkehrend):
Ende von Kreativität
Entwertung menschlicher Arbeit
Simulation statt Echtheit
Verlust von Autorschaft, Wahrheit, Sinn
Kernargument:
Maschinen übernehmen eine Domäne, die bisher Identität stiftete.

Wiederkehrende Struktur (der eigentliche Punkt)
Unabhängig von Epoche oder Technologie:
Externalisierung einer Fähigkeit (Gedächtnis, Rechnen, Schreiben, Gestalten)
Bedrohung von Status, Identität oder Deutungshoheit
Moralische Aufladung („Verfall“, „Entmenschlichung“)
Apokalyptische Rhetorik
Normalisierung → Integration → neue Abhängigkeiten

Der aktuelle „KI-Glaubenskrieg“ ist daher kein Sonderfall, sondern ein fast lehrbuchhafter Wiederholungszyklus.

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