Die archaische Architektur – Fortsetzung am Beispiel Silvester
Der Mensch hält sich für ein vernunftgeleitetes Wesen, weil er Gründe formulieren kann. Dass Gründe meist nach dem Handeln entstehen, nicht davor, wird dabei gern übersehen. Kaum ein gesellschaftliches Phänomen macht diese Diskrepanz so sichtbar wie der Jahreswechsel. Was sich dort ereignet, ist keine Ausnahme vom zivilisatorischen Selbstbild, sondern seine periodische Suspendierung – ritualisiert, legitimiert, kollektiv getragen.
Über Monate hinweg artikuliert sich Protest: für Klimaschutz, gegen Lärm, gegen Feinstaub, gegen die Ausbeutung von Tieren, für Rücksicht auf vulnerable Gruppen. Der Diskurs ist präsent, moralisch aufgeladen, sozial anschlussfähig. Und dann, um 24:00 Uhr am 31. Dezember, wird dieses semantische Gebäude schlagartig verlassen. Nicht widerlegt, nicht relativiert – verlassen. Als hätte es nie existiert.
Das ist keine bewusste Entscheidung, sondern ein Moduswechsel.
Die archaische Architektur des Menschen kennt keine konsistente Moral, sondern kontextabhängige Aktivierungssysteme. Im Alltag operieren wir überwiegend in einem regulierten Rahmen: soziale Normen, institutionelle Erwartungen, diskursive Selbstkontrolle. Silvester hingegen ist ein Übergangsritual. Rituale folgen keiner Zwecklogik. Sie sind nicht effizient, nicht rational, nicht argumentierbar – und genau darin liegt ihre Funktion.
Im Ritual wird nicht abgewogen, sondern entladen. Lärm, Licht, Explosionen, kollektive Gleichzeitigkeit: all das adressiert nicht den Neokortex, sondern tieferliegende Schichten. Der Mensch markiert den Übergang nicht mit Bedeutung, sondern mit Intensität. Der Knall ersetzt das Narrativ.
Dass Tiere leiden, dass Luft verschmutzt wird, dass Menschen mit Kriegserfahrung retraumatisiert werden – all das ist im Ritualmodus kein Gegenargument. Es ist semantisches Rauschen. Argumente erreichen ein System, das in diesem Moment nicht steuernd, sondern rechtfertigend tätig ist. Der Satz „Es ist ja nur einmal im Jahr“ ist keine Begründung, sondern eine Abwehrformel. Er signalisiert: Hier gilt gerade etwas anderes.
Bemerkenswert ist dabei nicht die Inkonsequenz Einzelner, sondern ihre statistische Verlässlichkeit. Auch jene, die sich sonst als besonders reflektiert, empathisch oder ethisch kohärent verstehen, sind Teil dieses Umschaltens. Das entlarvt eine zentrale Illusion moderner Selbstbilder: die Annahme eines einheitlichen moralischen Subjekts. In Wahrheit ist der Mensch ein Verbund divergierender Motivlagen, die je nach Kontext die Führung übernehmen.
Der regelmäßig diskutierte Vorschlag, Feuerwerk auf ausgewiesene, entfernte Flächen zu verlagern, scheitert genau an diesem Punkt. Er ist rational, praktikabel, historisch erprobt. Und gerade deshalb wirkungslos. Denn er missversteht die Funktion des Handelns. Es geht nicht um das Feuerwerk, sondern um Selbstwirksamkeit im eigenen Territorium. Um das Recht, den Raum selbst zu markieren, den Lärm selbst zu erzeugen, den Übergang selbst zu vollziehen. Zentralisierung würde das archaische Moment entkernen – und damit den eigentlichen Sinn zerstören.
Die archaische Architektur zeigt sich hier nicht als Regression, sondern als Persistenz. Zivilisation überlagert sie, aber sie ersetzt sie nicht. Vernunft ist kein Motor, sondern ein Navigationssystem, das nur dann eingreift, wenn das Fahrzeug nicht längst autonom beschleunigt. Wo limbische Programme aktiv sind, bleibt Rationalität Zuschauer.
Silvester ist deshalb kein Betriebsunfall der Aufklärung, sondern ihr jährlicher Stresstest. Er zeigt, wie dünn die Schicht ist, auf der wir unser Selbstverständnis errichten. Und wie stabil jene Strukturen sind, die darunter liegen.
Die eigentliche Zumutung liegt nicht im Feuerwerk, sondern in der Erkenntnis:
Der Mensch handelt nicht irrational trotz seiner Vernunft, sondern oft unabhängig von ihr. Vernunft kommt hinzu – als Erzählerin, nicht als Regisseurin.
Wer das akzeptiert, verliert vielleicht eine Illusion.
Gewinnt aber ein klareres Bild dessen, womit jede gesellschaftliche Veränderung tatsächlich rechnen muss.
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