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Das Scheitern der Rationalität

 

„Warum Wahrheit nicht überzeugt – Über Angst, Identität und die Erosion der Vernunft“

Es ist eines der irritierendsten Phänomene unserer Gegenwart:
Je besser wissenschaftliche Erkenntnisse empirisch belegt, überprüft und erklärbar sind, desto stärker werden sie von manchen Menschen abgelehnt. Gleichzeitig erleben ausgerechnet jene Techniken und Überzeugungen einen Boom, die nachweislich keine Wirkungsmechanismen besitzen, die jeder Doppelblindstudie nicht standhalten und deren Effekt nicht über Placebo hinausgeht – etwa Homöopathie, Globuli, energetisches Heilen oder „Quantenmedizin“.

Glauben triumphiert über Wissen – und zwar nicht leise, sondern leidenschaftlich, identitär, missionarisch.
Wie lässt sich das erklären, ohne in Arroganz, Spott oder Kulturverachtung abzugleiten?


1. Angst deaktiviert Vernunft

Neurowissenschaftlich ist der Mechanismus klar:
Wenn Angst aktiviert ist, übernimmt das limbische System. Der präfrontale Kortex – das Zentrum des rationalen Denkens – wird heruntergeregelt.
In Momenten gefühlter Bedrohung entscheidet der Mensch nicht logisch, sondern instinktiv.

Eine Impfung adressiert das Gefühl von Gefahr, Verletzlichkeit, Kontrollverlust.
Sie ruft die Frage hervor, ob der Körper, das eigene Kind oder die eigene Freiheit bedroht ist.

Wer Angst hat, sucht nicht nach Argumenten, sondern nach Schutz.

Und Schutz findet man nicht in Tabellen, sondern in Versprechen.


2. Globuli heilen nicht den Körper – sie heilen Identität

Rationale Medizin operiert auf der Ebene der Biologie.
Homöopathie auf der Ebene der Bedeutung.

Globuli sagen:

„Du bist selbstwirksam. Du entscheidest. Du vertraust deinem Gefühl.“

Impfungen sagen:

„Vertrau Experten. Ordne dich ein. Befolge Anweisungen.“

Damit stehen sich zwei Weltsysteme gegenüber:

  • Autonomie vs. Abhängigkeit

  • Erlebnis vs. Statistik

  • Sinn vs. Mechanik

Die Wirkung, die viele Menschen spüren, ist keine pharmakologische, sondern eine narrative:
Sie fühlen sich gesehen, ernst genommen, beteiligt.
Die Homöopathie behandelt nicht die Krankheit, sondern die Ohnmacht.


3. Komplexität erzeugt Überforderung

Moderne Wissenschaft ist so komplex, dass niemand sie vollständig versteht – nicht einmal Spezialisten jenseits ihres Fachbereichs. Die Welt ist undurchsichtig geworden, unüberschaubar, fragmentiert.

Homöopathie hingegen ist kindlich simpel:

  • Gleiches heilt Gleiches.

  • Verdünnen verstärkt Wirkung.

  • Wasser hat Gedächtnis.

Es ist falsch – aber es ist verständlich.

Das Gehirn liebt Muster, nicht Wahrheit.
Die Welt wird nicht mit Fakten bewältigt, sondern mit Erzählungen.


4. Wahrheit schafft keine Gemeinschaft

Verschwörungsglauben funktioniert wie Stammesbildung:

„Wir haben verstanden, was die anderen nicht sehen.“

Er schafft Zugehörigkeit, Identität, Heimatgefühl.
Rationalität schafft Einsamkeit.

Daten verbinden keine Menschen.
Gemeinsame Überzeugungen schon.

Darum verteidigen Anhänger von Globuli oder Impfmythen ihre Überzeugung wie ein Territorium:
Es ist nicht Wissen, das angegriffen wird, sondern das eigene Wir.


5. Der Mythos schlägt den Beweis

Eine persönliche Anekdote – „Mein Kind hatte nach der Impfung Fieber und Autismus!“ – wirkt stärker als Millionen Datensätze. Ein Erlebnis, egal wie kausal falsch, ist narrativ unwiderstehlich.

Daten sind abstrakt. Geschichten sind real.

Impfungen verhindern Krankheit. Wenn sie funktionieren, passiert nichts.
Nichts hat keine Dramaturgie.

Homöopathie erzeugt Rituale, Erwartungen, symbolische Handlung – sie fühlt sich an wie Heilung.

Menschen glauben nicht, was wahr ist.
Menschen glauben, was sich wahr anfühlt.


6. Wo die Welt unübersichtlich wird, ersetzt Trost die Wahrheit

Die Moderne bricht ihre Versprechen: Sicherheit, Fortschritt, Kontrolle.
Was bleibt, ist Erschöpfung, Überforderung, Verlust von Sinn.

Globuli trösten.
Impfungen erklären nicht, sie verordnen.

Deshalb scheitert der Rationalismus:
Er unterschätzt die Macht des Trostes.


Schlussgedanke

Menschen entgleisen nicht intellektuell.
Sie verteidigen emotional.

Was heute sichtbar wird, ist keine Krise des Wissens, sondern eine Krise der Bedeutung.
Nicht Aufklärung ist gescheitert, sondern die Vorstellung, dass Wahrheit alleine reicht.

Der Kampf um Realität wird nicht in Laboren entschieden, sondern in Herzen, Identitäten, Geschichten.

Vielleicht beginnt Heilung dort, wo Wissenschaft wieder Sinn anbieten kann – nicht nur Fakten.

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