**Freiheit = Verantwortung — Teil 23
Jugend zwischen Entgrenzung und Ordnung**
Nach der Rekonstruktion der äußeren Strukturen
stellt sich die unausweichliche Frage
nach der inneren Architektur derer,
die diese Demokratie tragen sollen.
Denn kein System trägt sich selbst.
Es trägt sich nur durch Menschen,
die fähig sind, Freiheit zu halten.
Und genau hier
zeigt sich die nächste Bruchlinie.
Nicht zwischen rechts und links.
Nicht zwischen alt und neu.
Sondern zwischen Entgrenzung und Ordnung
im Inneren einer Generation.
1. Freiheit ohne Widerstand wird haltlos
Freiheit entsteht nicht im luftleeren Raum.
Sie braucht:
• Grenze
• Widerstand
• Gegenüber
• Zumutung
Wo all das fehlt,
kippt Freiheit in Beliebigkeit.
Und Beliebigkeit kippt in Überforderung.
Die heutige Jugend lebt
in einem historischen Ausnahmezustand:
Noch nie war so viel formale Freiheit verfügbar.
Noch nie mussten so viele Lebensentscheidungen
so früh,
so endgültig,
so selbstverantwortlich getroffen werden.
Identität wählbar.
Geschlechterrollen offen.
Berufswege flexibel.
Wahrheiten fragmentiert.
Zukunft ungewiss.
Was als Befreiung begann,
schlägt für viele in Orientierungslosigkeit um.
Freiheit ohne Struktur
ist keine Autonomie —
sie ist Haltlosigkeit.
2. Der Rückzug ins Archaische
Wo Überforderung wächst,
aktiviert sich nicht Vernunft,
sondern das archaische Betriebssystem des Menschen:
• Hierarchie
• Dominanz
• klare Rollen
• starke Führung
• Freund-Feind-Schemata
Das Archaische ist nie verschwunden.
Es war nur überdeckt
durch Stabilität, Wohlstand, Schuldwissen.
Diese Überdeckung ist brüchig geworden.
Was sich heute als
„Rückkehr konservativer Geschlechterbilder“
oder
„neue autoritäre Sehnsucht“
zeigt,
ist weniger Ideologie
als psychische Selbstentlastung.
Komplexität wird eingetauscht gegen Einfachheit.
Unsicherheit gegen Ordnung.
Freiheit gegen Führung.
Nicht aus Überzeugung.
Sondern aus Erschöpfung.
3. Der Verlust der leiblichen Geschichte
Mit dem Tod der letzten Zeitzeugen
ist mehr verschwunden als Erinnerung.
Verschwunden ist die leibliche Evidenz der Geschichte.
Der Nationalsozialismus ist heute:
• bekannt
• katalogisiert
• didaktisch behandelt
Aber er ist nicht mehr körperlich präsent.
Er ist Wissen,
keine Erschütterung mehr.
Für die Enkelgeneration
liegt er emotional
nicht näher als das Römische Reich.
Geschichte schützt aber nicht durch Information.
Sie schützt nur durch Resonanz.
Wo Erfahrung nicht mehr in Körperprägung übersetzt wird,
bleibt Moral abstrakt.
Und Abstraktion schützt nicht vor Wiederholung.
4. Jugend braucht Führung — und Widerstand
Jugend braucht immer zweierlei:
• Orientierung
• und etwas, wogegen sie sich reiben kann
Autonomie entsteht nicht im grenzenlosen Raum,
sondern im Konflikt mit etwas,
das trägt.
Was unsere Gesellschaft weitgehend abgeschafft hat,
ist nicht Autoritarismus,
sondern Autorität.
Aus Angst vor Machtmissbrauch
wurde Machtneutralität.
Aus Ordnung wurde Aushandlung.
Aus Führung wurde Moderation.
Übrig blieb oft:
• kein Gegenüber
• keine klare Grenze
• kein Halt
• kein Widerstand
Wo aber nichts steht,
gegen das man sich aufrichten kann,
bleibt nur das diffuse Gefühl von Leere.
5. Autoritäre Angebote als Freiheits-Ersatz
In dieses Vakuum treten autoritäre Bewegungen.
Nicht, weil sie politisch überzeugen.
Sondern weil sie psychisch entlasten.
Sie versprechen:
• Ordnung statt Unsicherheit
• Zugehörigkeit statt Vereinzelung
• Richtung statt Überforderung
• Führung statt Selbstzweifel
Sie bieten keine Freiheit.
Sie bieten Erlösung von Freiheit.
Dass diese Dynamik
besonders im Umfeld der Debatte
um die Wiedereinführung der Wehrpflicht sichtbar wird,
ist kein Zufall.
Krieg, Dienst, Opfer und Nation
sind archaische Sinnkomplexe.
Sie erzeugen Bedeutung,
bevor sie reflektiert werden.
Verweigerung setzt Zwang voraus.
Haltung setzt Zumutung voraus.
Gewissen entsteht nicht im Vakuum.
Wo alles freiwillig wird,
wird auch Verantwortung voluntativ —
und damit fragil.
6. Der Rechtsruck als Resonanzphänomen
Der Zulauf Jugendlicher zu rechten Bewegungen
ist weniger ein ideologischer Umschwung
als ein Resonanzphänomen.
Er zeigt nicht primär,
was geglaubt wird,
sondern wonach gesucht wird:
• Halt
• Richtung
• Eindeutigkeit
• Schutz vor innerer Überforderung
Rechte Erzählungen sind:
• einfacher als die Realität
• klarer als die Demokratie
• schneller als Bildung
• emotionaler als Argumente
Sie antworten nicht auf politische Fragen,
sondern auf existentielle Unsicherheiten.
7. Das eigentliche Dilemma der Freiheit
Das entscheidende Dilemma lautet nicht:
Freiheit oder Autorität?
Es lautet:
Wie viel Ordnung braucht Freiheit,
um Verantwortung tragen zu können?
Demokratie kann nicht allein
durch Institutionen verteidigt werden.
Sie hängt an der inneren Struktur derer,
die sie bewohnen.
Freiheit verlangt innere Ordnung.
Fehlt sie,
kippt Freiheit in Angst.
Und Angst ruft nach Macht.
8. Anschluss an die Rekonstruktion
Demokratische Rekonstruktion,
von der Teil 22 sprach,
kann deshalb nicht nur
äußerlich stattfinden:
nicht nur in Strukturen,
nicht nur in Öffentlichkeit,
nicht nur in Institutionen.
Sie muss zugleich
eine innere Rekonstruktion sein:
• von Verantwortungsfähigkeit
• von Konfliktfähigkeit
• von Ambiguitätstoleranz
• von Widerstandskraft gegen einfache Lösungen
Ohne diese innere Rekonstruktion
wird jede äußere Reform
von der nächsten autoritären Welle
wieder überrollt.
9. Schlussgedanke
Die Jugend steht heute
zwischen zwei Überforderungen:
• der Haltlosigkeit grenzenloser Freiheit
• und der Verführung einfacher Ordnung
Beides ist gefährlich.
Die eine,
weil sie vereinsamt.
Die andere,
weil sie entmündigt.
Demokratie trägt nur dort,
wo Freiheit wieder als das begriffen wird,
was sie immer war:
Keine Entgrenzung.
Sondern eine Zumutung
zur Verantwortung.
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