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1984 vs. 2025

 

Orwells „Kriege in der Peripherie“ und der Krieg in der Ukraine

Strukturelle Parallelen, entscheidende Unterschiede

Als George Orwell 1948 1984 schrieb, entwarf er kein konkretes Zukunftsszenario einzelner Kriege, sondern ein Machtmodell. Die berühmten „Kriege in der Peripherie“, die zwischen den Großmächten Ozeanien, Eurasien und Ostasien geführt werden, dienen nicht dem Sieg, sondern der Stabilisierung des Systems selbst.

Der Krieg ist bei Orwell kein Mittel zum Zweck – er ist der Zweck.

Krieg als Systemfunktion

In Orwells Welt erfüllen die permanenten Kriege mehrere zentrale Funktionen:
Sie binden Ressourcen, ohne reale Gewinne zu erzeugen. Sie halten die Bevölkerung in einem Zustand ständiger Mobilisierung und Angst. Sie legitimieren Knappheit, Überwachung und Gehorsam. Vor allem aber: Sie dürfen niemals entschieden werden. Ein echter Sieg oder eine Niederlage würde das Machtgefüge destabilisieren.

Der Krieg richtet sich daher nicht nach militärischer Logik, sondern nach innenpolitischer Nützlichkeit. Er ist eine Form von Innenpolitik mit anderen Mitteln.

Blick auf die Ukraine: Wo die Parallelen beginnen

Betrachtet man den Krieg in der Ukraine aus der Perspektive der globalen Machtzentren, lassen sich durchaus strukturelle Parallelen erkennen:

Der Krieg findet nicht auf dem Territorium der führenden NATO-Staaten statt. Er bindet Ressourcen, Aufmerksamkeit und politische Narrative. Er stabilisiert Bündnisse, rechtfertigt massive Rüstungsausgaben und verfestigt geopolitische Fronten. Für die USA ist dieser Krieg kein existenzieller Überlebenskampf, sondern ein ordnungspolitisches Instrument zur Eindämmung Russlands und zur Stabilisierung der westlichen Sicherheitsarchitektur.

In diesem eingeschränkten Sinn wirkt der Konflikt aus der Distanz funktional – fast orwellianisch.

Der entscheidende Bruch mit Orwell

Doch hier endet die Vergleichbarkeit.

Für die Ukraine ist dieser Krieg existenziell. Es geht um territoriale Integrität, politische Selbstbestimmung und schlicht ums Überleben. Auch für Russland trägt der Krieg existenzielle Züge, zumindest für die innere Systemstabilität und das imperiale Selbstverständnis der Führung.

Orwells periphere Kriege kennen solche Subjekte nicht. Sie sind entleert von realer Bedeutung für die Beteiligten. Menschen sterben, aber ihr Sterben hat keinen inneren Sinn, keine Geschichte, kein Ziel. Der Krieg ist reines Funktionsrauschen.

Die Ukraine hingegen ist kein austauschbares Schachfeld, sondern ein handelnder Akteur mit realem Risiko, realem Leid und realem Willen. Genau das macht den Vergleich asymmetrisch.

Rohstoffe, Einflusszonen und imperiale Logik

Im Schatten des Krieges verschärft sich zugleich der globale Kampf um Rohstoffe und Lieferketten. Dabei geht es weniger um klassische „Einverleibung“ im kolonialen Sinn als um strukturelle Bindung:

Die USA sichern Lieferketten, verhindern gegnerische Monopole und binden Förderländer an ein westlich dominiertes System aus Dollar, Sicherheitsgarantien, Handelsabkommen und technologischen Abhängigkeiten. Es ist imperiale Politik ohne formale Kolonien – Einfluss durch Verträge, Märkte und Standards statt durch Gouverneure und Flaggen.

Auch hier berührt sich die Gegenwart mit Orwell, allerdings nicht auf der Ebene einzelner Kriege, sondern in der Logik systemischer Konkurrenz, in der Stabilität wichtiger wird als Wahrheit oder Moral.

Fazit

Der Krieg in der Ukraine ist kein orwellianischer Peripheriekrieg im engeren Sinn. Dafür ist er zu real, zu existenziell, zu tödlich für die Betroffenen.

Und doch zeigt er orwellianische Funktionsmerkmale – allerdings nur aus der Perspektive der Machtzentren, für die er Teil einer größeren Ordnungspolitik ist.

Oder zugespitzt formuliert:

Für Orwell ist Krieg ein Zustand.
Für die Ukraine ist er ein Schicksal.

Diese Unterscheidung ist entscheidend, wenn man vermeiden will, literarische Modelle mit realem Leid zu verwechseln.

Addendum:

Relativierung der Relativierung

So zwingend die strukturellen Vergleiche auch erscheinen mögen, sie entheben niemanden der Verantwortung. Die Einsicht, dass Kriege systemisch funktionalisiert werden, darf nicht selbst zur funktionalen Entlastung werden. Wer alles als Logik großer Systeme erklärt, läuft Gefahr, das konkrete Leiden erneut zu abstrahieren – diesmal nicht aus Machtinteresse, sondern aus analytischer Bequemlichkeit. Die Tatsache, dass Zwecke Mittel zu legitimieren scheinen, macht diese Logik nicht wahrer, sondern nur gefährlicher. Gerade weil reale Kriege niemals reine Funktionsräume sind, sondern immer Menschen, Körper, Biografien und Erinnerungen betreffen, bleibt jede Relativierung prekär. Vielleicht liegt der letzte Rest von Realität genau hier: im Widerstand gegen die Versuchung, selbst die Erklärung zum Ersatz für Verantwortung werden zu lassen.

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