Argumentationspapier
Das Potentialitätskriterium als strukturelles Risiko demokratischer Selbstverteidigung
1. Ausgangspunkt
Ein Parteiverbot nach Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz ist möglich, wenn eine Partei nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgeht, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen oder zu gefährden.
Seit dem NPD-Urteil 2017 gilt zusätzlich das vom Bundesverfassungsgericht formulierte Potentialitätskriterium:
Eine Partei muss realistische Möglichkeiten besitzen, ihre verfassungsfeindlichen Ziele umzusetzen.
Damit wurde das Parteiverbot an eine Bedingung geknüpft, die nicht im Wortlaut des Grundgesetzes steht, sondern aus der Rechtsprechung abgeleitet wurde.
2. Das strukturelle Dilemma
Das Potentialitätskriterium führt zu einer paradoxen Schutzlogik:
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Solange eine extremistische Partei schwach ist, gilt ein Verbot als unverhältnismäßig (Gericht NPD-Entscheidung).
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Solange sie stärker wird, gelten ihre Machtoptionen als „noch hypothetisch“.
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Wird sie stark genug, um nicht länger hypothetisch zu wirken, besitzt sie bereits Machtmittel, demokratische Mechanismen auszuschalten.
Damit verschiebt sich der Zeitpunkt des Handelns strukturell hinter den kritischen Punkt.
Ein Verbot ist theoretisch gedacht als Prävention, praktisch aber erst möglich, wenn Prävention nicht mehr wirkt.
3. Konsequenz
Das Instrument des Parteiverbots droht damit funktionslos zu werden:
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Juristisch, weil das Verfahren erst dann erfolgversprechend wird, wenn es zu spät ist.
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Politisch, weil ab einem bestimmten Zeitpunkt die Antragsteller selbst unter Druck stehen.
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Demokratisch, weil Vertrauen in Selbstschutzmechanismen verloren geht.
Das entspricht einem Sicherheitssystem,
das erst dann Alarm schlägt, wenn die Tür bereits eingetreten ist.
4. Historische Dimension
Demokratien scheitern selten am plötzlichen Zusammenbruch,
sondern an zögerlicher Anwendung ihrer eigenen Schutzinstrumente.
Der späteste Zeitpunkt, Demokratie zu schützen,
ist der Moment, in dem ihre Gegner Regierungsverantwortung erreichen.
Danach sind verfassungsgerichtliche oder gesetzliche Mittel leicht neutralisierbar.
5. Aktuelle Relevanz
Wenn eine Partei
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bundesweite Organisiertheit hat,
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realistische Regierungsoptionen aufweist,
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öffentlich dokumentierte verfassungsfeindliche Aussagen tätigt,
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und Anhänger systematisch einschüchternd oder gewaltbereit agieren,
dann ist das Potentialitätskriterium erfüllt,
nicht obwohl, sondern weil politische Macht realistisch zu erwarten ist.
Angesichts aktueller Umfragen, die die AfD auf Augenhöhe mit der stärksten Partei sehen,
kann eine Einstufung als „noch hypothetisch“ nicht mehr glaubwürdig begründet werden.
6. Schlussfolgerung
Die Aufgabe des Parteiverbots ist nicht, bereits realisierte Tyrannei zu verhindern,
sondern demokratische Erosion zu stoppen, bevor sie unumkehrbar wird.
Ein Verbotsinstrument, das nur eingesetzt wird, wenn es zu spät ist,
ist kein Schutz, sondern ein symbolisches Artefakt.
Die Debatte muss daher nicht lauten:
„Darf man eine Partei mit vielen Wählern verbieten?“
sondern:
„Darf man zulassen, dass eine verfassungsfeindliche Partei stark genug wird, die Verfassung abzuschaffen?“
Verdichtete Formulierung
Potentialität bedeutet nicht, dass eine Gefahr noch nicht real ist,
sondern dass sie kurz davor steht, real zu werden.
Wer erst handelt, wenn sie real ist, hat bereits versagt.
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