Die vergessene Mitte / Der vergessene Kompass
Zweiteiliger Essay über das Verschwinden moralischer Orientierung in Politik und Gesellschaft
Vorwort
Es ist stiller geworden um die großen Worte: Gemeinwohl,
Verantwortung, Würde, Maß.
Was nach dem Krieg
selbstverständlich war – das Bewusstsein, dass Politik mehr ist
als Machtverwaltung –, ist heute zu einer Randnotiz geworden.
Doch
während sich die Parteienlandschaft neu sortiert, suchen viele
Menschen nach einem anderen, älteren Maßstab:
nach Richtung,
nicht nach Richtungsvorgabe.
Nach Orientierung, nicht nach
Meinung.
Dieser Essayzyklus versucht, diese Suche nachzuvollziehen.
Die
vergessene Mitte blickt historisch zurück auf das, was verloren
ging.
Der vergessene Kompass fragt, was davon noch in
uns lebt – jenseits von Programmen und Parteigrenzen.
Teil I – Die vergessene Mitte
Wie Die Linke das sozialethische Erbe von CDU und SPD bewahrt
In der öffentlichen Wahrnehmung gilt Die Linke vielen
als „außenstehend“, als Nachlassverwalterin überkommener
Ideologien.
Doch wer einen Blick in die Geschichte der deutschen
Nachkriegsprogramme wirft, erkennt eine verblüffende Kontinuität:
In
zentralen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, des
Eigentumsverständnisses und der moralischen Verantwortung steht die
heutige Linke näher am Ahlener Programm der CDU von
1947 und am Godesberger Programm der SPD von 1959
als an den Lehren des Marxismus.
Beide Dokumente entstanden im Schatten des Zusammenbruchs einer
Gesellschaft, die ihre Seele im Rausch der Ideologien verloren
hatte.
Sie formulierten als Antwort ein Leitbild, das das
Gemeinwohl über die bloße Kapitalverwertung stellte.
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.“
— CDU, Ahlener Programm 1947
„Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind die Grundwerte des demokratischen Sozialismus.“
— SPD, Godesberger Programm 1959
Es war die Sprache einer Epoche, die wusste, was Verantwortung bedeutet.
Schaut man heute in das Grundsatzprogramm der Linken,
findet man diese Linie wieder:
eine Absage an die ungezügelte
Profitlogik,
die Forderung nach sozialer Verantwortung des
Eigentums,
die Verteidigung des Rechtsstaats und des
Friedens,
die Betonung der Würde der Arbeit und der sozialen
Teilhabe.
Diese Haltung ist nicht revolutionär, sondern konservativ im
ursprünglichen Sinn:
die Bewahrung eines moralischen
Fundaments.
Man könnte sagen:
Die Linke hat sich nicht nach außen bewegt –
die Mitte hat sich verschoben.
Damit ist sie, paradoxerweise, Erbin jener Nachkriegsvernunft,
die
einst das Herz der Bundesrepublik bildete.
Teil II – Der vergessene Kompass
Über Maß, Richtung und den leisen Verlust moralischer Orientierung
Prolog – Nach dem Verlust der Mitte
Politik war einmal die Kunst des Maßes –
ein Gleichgewicht
zwischen Freiheit und Verantwortung,
zwischen individueller
Entfaltung und gemeinsamer Verpflichtung.
Heute scheint dieses
Maß verloren.
Nicht, weil wir keine Werte mehr hätten,
sondern
weil sie ihre Richtung verloren haben.
1. Verlust der Richtung – Der Kompass ohne Magnetfeld
Wir leben in einer Zeit, die alles misst, aber kaum noch Maß
kennt.
Der Kompass unserer Gesellschaft rotiert,
weil das
Magnetfeld verschwunden ist, das ihn einst ausrichtete:
jene
unsichtbare gemeinsame Wertbasis,
auf die man sich einmal still
verständigen konnte.
„Nie wieder“ war einst kein politischer Slogan,
sondern
ein moralischer Nordpol.
Heute sind die Worte geblieben,
doch
der innere Ausschlag fehlt.
2. Vom Maß zum Markt – Wie Sprache und Werte auseinanderliefen
Einst war Fortschritt ein moralisches Versprechen
–
heute ist er ein Verkaufsargument.
Einst war Arbeit
Ausdruck von Würde –
heute gilt sie als Standortfaktor.
Einst
war Gemeinwohl Ziel –
heute ist es
Nebeneffekt.
Die Sprache hat ihre moralische Richtung verloren.
Sie
gehorcht nicht mehr dem Maßstab,
sondern dem Maßband.
3. Ethik als leises Echo
Wenn heute von „Werten“ die Rede ist,
klingt es oft wie
Nachhall.
Die Begriffe stehen noch,
aber ihr Resonanzraum
ist leer geworden.
In dieser Leere gedeihen die schnellen Gewissheiten:
Parolen,
Feindbilder, Identitäten.
Sie geben Richtung vor,
aber
keine Richtungskraft.
Orientierung, die aus Angst geboren
ist,
führt nicht hinaus,
sondern im Kreis.
4. Die innere Nadel
Der wahre Kompass liegt nicht im Außen.
Er entsteht dort,
wo
ein Mensch spürt, was richtig ist –
nicht, weil es nützlich
ist,
sondern weil es würdig ist.
Vielleicht beginnt moralische Erneuerung
nicht in
Reformpapieren,
sondern in der Stille:
wenn jemand
innehält
und sich erinnert,
dass Würde kein Wert
ist,
sondern ein Verhältnis.
Epilog – Zurück zur Mitte
Die vergessene Mitte ist kein Ort.
Sie ist ein Raum des
Gewissens,
den wir nur betreten,
wenn wir uns der Richtung
vergewissern,
nicht der Geschwindigkeit.
Der vergessene Kompass zeigt nicht nach Norden.
Er zeigt nach innen.
Nachwort
Diese beiden Essays sind keine Nostalgie,
sondern eine
Bestandsaufnahme.
Sie fragen, ob die politische Vernunft,
die
einmal das Rückgrat der Demokratie bildete,
sich vielleicht nur
versteckt hat –
unter den Staubschichten der Effizienz,
der
Technokratie, der medialen Dauererregung.
Vielleicht ist sie nicht verloren.
Vielleicht wartet sie nur
darauf,
dass jemand wieder zuhört.
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