ANDERSRUM IN TRACHT
Im Jahr 1985 roch die Turnhalle von Andersrum – einem jener ostfriesischen Dörfer, die selbst auf Landkarten gähnen – nach Linoleum, Franzbranntwein und ein bisschen Triumph. Harald Scholle, 34, Schnurrbart von mittlerer Überzeugung und Besitzer eines Kadett, der nur bergab sportlich war, trainierte die Damenmannschaft des TSV Andersrum im Handball. Wie das kam?
„Weil sich keiner sonst gemeldet hat“, sagte Harald. Die Damen sagten: „Weil er nett ist und pfeifen kann.“ Beides stimmte irgendwie. Die Saison lief wie geschmiert, manchmal sogar besser, und als der Schlusspfiff des entscheidenden Spiels verhallte, stand fest: Kreismeister 1985. In Andersrum bedeutete das, dass drei Tage lang die Kirchenkuh mehr Besuch bekam als die Kirche.
„Feiern tun wir bei Harms aufm Hof“, beschloss Kapitänin Susanne. „Friesen Wies’n. Wie in München, nur ohne Berge und mit Geschmack.“ „Aber Tracht!“ fügte Heike hinzu. Harald verzog das Gesicht, als hätte ihm jemand einen harzigen Lakritzbonbon angeboten. „Ich hab doch nichts Trachtiges.“ „Wir kümmern uns“, sagte Susanne und grinste wie jemand, der ein Geheimnis im Schrank hat.Der Abend kam. Bauer Harms hatte die Scheune aufgeräumt (also: das Heu nur auf eine Seite geschoben), Lichterketten knoteten ihren Optimismus zwischen zwei Balken, und ein Akkordeon ergab sich freiwillig. Die Damen erschienen in kurzen Lederhosen und karierten Hemden, als hätten sie den Bayerischen Rundfunk verschluckt. Harald trug seine beste Jeans, die an den Knien ernsthaft war.„Für dich“, sagte Susanne und reichte ihm ein Päckchen. „Was’n das?“ „Kultur.“ Harald band die Schleife auf, hob eine Augenbraue, dann die andere. „Ein … Dirndl?“ „In Andersrum denkt man um die Ecke“, sagte Heike. „Passt schon.“ Zwölf erwartungsvolle Gesichter sind stärker als jedes Nein. Harald verschwand hinter einem Tuch, das mal Vorhang gewesen war, und rang mit mutmaßlich 37 Haken, Ösen und seinem Selbstbild. Als er wieder herauskam, stand die Zeit kurz still – dann brach die Scheune in Gelächter, Applaus und vereinzeltes Jodeln aus.Das Dirndl war rotkariert, die Bluse weiß und die Schürze … ambitioniert. „Starkes Beinspiel, Trainer“, rief Marita. „Königliche Haltung!“, setzte Ilse nach. Harald hob das Bier: „Für die Mannschaft tu ich alles. Und für diese Schürze auch fast.“Die Friesen Wies’n wurden legendär. Harald tanzte mit Susanne Polka, mit Heike Schieber, mit der Schürze Walzer. Bauer Harms blies in eine Trompete, die weder Ton noch Alter verriet. Als die Nacht in die Scheune fiel, schwor sich Andersrum, nie wieder zu vergessen, dass Mut nicht immer mit Siebenmeilenschritten kommt – manchmal reicht ein Bindeband.
„Diesen Abend vergisst keiner“, sagte Susanne draußen im Heugeruch. „Ich auch nicht – ich hab Muskelkater in der Selbstironie“, antwortete Harald. Sie lachten. Und die Lichterkette knisterte zustimmend. (KI generiertes Bild)
---2025. Vierzig Jahre später hatte die Welt WLAN, E-Bikes und zwei weitere Sorten Milch. Ostfriesland blieb bei Wind, Wetter und Tee. Susanne, inzwischen 61 und Besitzerin eines Lesebrillenbouquets, suchte auf dem Dachboden nach „irgendwas mit Weihnachten“ und fand dafür eine Kiste mit der Philosophie „Später mal“. Darin: ein vergilbter Zeitungsausschnitt („Sensation von Andersrum!“), ein Mannschaftsfoto (alle Haare entschlossen), der kleine goldene Pokal – und eine handschriftliche Notiz: Harald: Schürze rechts, Würde links. Susanne lächelte. Es wurde Zeit. Sie setzte sich an den Küchentisch, machte sich eine Kanne Tee und wurde zur Detektivin: Heike in Oldenburg, Marita in Leer, Ilse irgendwo hinter Bremen.Harald? „Hat jetzt ’nen E-Bike-Laden“, sagte jemand. „Der verkauft Räder, die ohne Watt nich mal mitfahren.“ Der Gasthof Fehnblick war der neue Treffpunkt. Die Friesen Wies’n gab es nicht mehr und Bauer Harms war in die Geschichte umgezogen. Statt Fassbier gab’s Aperol, statt Heuboden Polsterstühle. Dieselben Menschen, andere Rücken.Es wurde dunkel, die ersten trafen ein, das „Weißte noch?“ lag in der Luft. Susanne stand an der Tür wie damals – bloß wärmer angezogen. „Fehlt nur noch Harald“, sagte Marita. „Der kommt stilvoll zu spät“, meinte Heike. Die Tür ging auf. Und herein kam er.Kein Schnurrbart mehr, graue Schläfen – und ein Dirndl in tiefem Blau, die weiße Bluse so souverän wie sein Grinsen. Die Schleife saß, als hätte sie ein Diplom. Einen Herzschlag lang Stille – dann riss es die Runde von den Stühlen. Gelächter, Applaus, vereinzeltes Pfeifen, jemand rief „Zwo, drei, g’suffa!“, woraufhin der Wirt nervös zur Getränkekarte schaute.Harald verbeugte sich eine Spur zu tief. „Ich dachte, wir halten uns an den Dresscode von damals.“ „Der Trainer im Dirndl – das Original!“ rief Ilse. „Vierzig Jahre und kein bisschen schüchtern“, lachend Susanne.Sie stellten den Pokal in die Mitte. Geschichten wanderten über den Tisch wie Teller: das Auswärtsspiel in Bunde („die Duschen waren philosophisch“), der Siebenmeter von Heike („mehr Kunst als Sport“), Susannes Pfeifkonzert gegen den Schiri („musikalisch fragwürdig, aber wirksam“). Jede Anekdote ein Faden, und plötzlich lag das alte Netz wieder über allen: Teamgeist, Spottliebe, die feine Kunst, einander zu kennen.„Weißt du noch, wie schwer das Atmen im Dirndl war?“ fragte Marita. Harald nickte. „Ich war danach topfit im Oberkörper. Allein vom Schnüren.“ „Und von der Haltung“, sagte Susanne und sah ihn so an, als hätte die Zeit das Lächeln konserviert. „Du warst mutig.“ „Ich war jung und schlecht im Nein-Sagen.“ „Gleiche Wirkung“, sagte sie. Sie gingen raus auf die Terrasse. Der Wind zog die Fehne glatt, der Himmel trug seine Wolken wie frisierte Schafe. „Vierzig Jahre“, sagte Susanne. „Und ein paar Falten“, sagte Harald. „Die gehören uns. Wie der Pokal.“ „Und das Dirndl“, grinste er.Drinnen tanzte Ilse spontan mit dem Pokal, Heike wollte ein Mannschaftsfoto „wie damals, aber mit Knie schonend“. Der Wirt, unsicher, ob er gerade Geschichte oder Klamauk bewirtete, brachte Likör. Die Runde beschloss, dass Kalorien keine Erinnerung haben.Später saßen Susanne und Harald nebeneinander auf der Bank, die Gespräche brummten im Hintergrund, und die Stille zwischen ihnen war weich wie ein alter Trainingsanzug. „Warum hast du’s wieder angezogen?“ fragte sie irgendwann. Harald dachte kurz nach. „Weil ihr’s mir damals leicht gemacht habt, ich zu sein, ohne dass ich wusste, wer das alles ist. Und weil ich sehen wollte, ob’s noch passt.“ „Passt“, sagte sie. „Sitzt. Steht dir.“ „Die Schürze diesmal auch.“ „Ja. Die auch.“ Sie lachten. Das Lachen von Menschen, die wissen, dass man nicht alles erklären muss. Manchmal reicht ein Kleidungsstück und ein Blick quer durch vier Jahrzehnte.Als der Abend die letzte Runde ausrief, wurden Nummern getauscht, Kalender gezückt, Terminhürden wie Hürden genommen. „Wir machen das jährlich“, sagte Heike. „Solange der Pokal nicht in Rente will.“ „Und der Trainer auch nicht“, ergänzte Ilse.Vor dem Fehnblick blieb Susanne stehen. „Also … bis spätestens in zwölf Monaten?“ „Spätestens“, sagte Harald. „Ich bestell das Dirndl dann rechtzeitig. Oder ich kauf’s. Dann spart man sich die Ausreden.“ „Andersrum ist man hier ja gewohnt“, sagte sie, und dieses Andersrum klang auf einmal nach Ort, Richtung und Lebensmotto zugleich.Sie umarmten sich. Kein großes Drama, nur das satte Einrasten eines alten Gefühls, das den Weg wiedergefunden hatte. Harald ging zum Fahrradständer (die E-Bikes tuschelten untereinander) und sah zurück. Susanne stand in der Tür und hob die Hand. Das Gasthausschild klirrte leise im Wind. Drinnen lachte jemand. Draußen roch es nach Wetter. In ihm rauschte der Sommer von damals kurz auf. Er stieg auf, fuhr los, und dachte, dass manche Geschichten keine Pointe brauchen. Es reicht, wenn sie weitergehen.Und irgendwo zwischen Fehn und Feld, wo der Wind die Richtung bestimmt und die Leute den Rest, dachte Harald, dass es schon komisch ist: Ausgerechnet in Andersrum lernt man, wie gutes tut, die Dinge ab und zu genau so zu drehen.Ende
---2025. Vierzig Jahre später hatte die Welt WLAN, E-Bikes und zwei weitere Sorten Milch. Ostfriesland blieb bei Wind, Wetter und Tee. Susanne, inzwischen 61 und Besitzerin eines Lesebrillenbouquets, suchte auf dem Dachboden nach „irgendwas mit Weihnachten“ und fand dafür eine Kiste mit der Philosophie „Später mal“. Darin: ein vergilbter Zeitungsausschnitt („Sensation von Andersrum!“), ein Mannschaftsfoto (alle Haare entschlossen), der kleine goldene Pokal – und eine handschriftliche Notiz: Harald: Schürze rechts, Würde links. Susanne lächelte. Es wurde Zeit. Sie setzte sich an den Küchentisch, machte sich eine Kanne Tee und wurde zur Detektivin: Heike in Oldenburg, Marita in Leer, Ilse irgendwo hinter Bremen.Harald? „Hat jetzt ’nen E-Bike-Laden“, sagte jemand. „Der verkauft Räder, die ohne Watt nich mal mitfahren.“ Der Gasthof Fehnblick war der neue Treffpunkt. Die Friesen Wies’n gab es nicht mehr und Bauer Harms war in die Geschichte umgezogen. Statt Fassbier gab’s Aperol, statt Heuboden Polsterstühle. Dieselben Menschen, andere Rücken.Es wurde dunkel, die ersten trafen ein, das „Weißte noch?“ lag in der Luft. Susanne stand an der Tür wie damals – bloß wärmer angezogen. „Fehlt nur noch Harald“, sagte Marita. „Der kommt stilvoll zu spät“, meinte Heike. Die Tür ging auf. Und herein kam er.Kein Schnurrbart mehr, graue Schläfen – und ein Dirndl in tiefem Blau, die weiße Bluse so souverän wie sein Grinsen. Die Schleife saß, als hätte sie ein Diplom. Einen Herzschlag lang Stille – dann riss es die Runde von den Stühlen. Gelächter, Applaus, vereinzeltes Pfeifen, jemand rief „Zwo, drei, g’suffa!“, woraufhin der Wirt nervös zur Getränkekarte schaute.Harald verbeugte sich eine Spur zu tief. „Ich dachte, wir halten uns an den Dresscode von damals.“ „Der Trainer im Dirndl – das Original!“ rief Ilse. „Vierzig Jahre und kein bisschen schüchtern“, lachend Susanne.Sie stellten den Pokal in die Mitte. Geschichten wanderten über den Tisch wie Teller: das Auswärtsspiel in Bunde („die Duschen waren philosophisch“), der Siebenmeter von Heike („mehr Kunst als Sport“), Susannes Pfeifkonzert gegen den Schiri („musikalisch fragwürdig, aber wirksam“). Jede Anekdote ein Faden, und plötzlich lag das alte Netz wieder über allen: Teamgeist, Spottliebe, die feine Kunst, einander zu kennen.„Weißt du noch, wie schwer das Atmen im Dirndl war?“ fragte Marita. Harald nickte. „Ich war danach topfit im Oberkörper. Allein vom Schnüren.“ „Und von der Haltung“, sagte Susanne und sah ihn so an, als hätte die Zeit das Lächeln konserviert. „Du warst mutig.“ „Ich war jung und schlecht im Nein-Sagen.“ „Gleiche Wirkung“, sagte sie. Sie gingen raus auf die Terrasse. Der Wind zog die Fehne glatt, der Himmel trug seine Wolken wie frisierte Schafe. „Vierzig Jahre“, sagte Susanne. „Und ein paar Falten“, sagte Harald. „Die gehören uns. Wie der Pokal.“ „Und das Dirndl“, grinste er.Drinnen tanzte Ilse spontan mit dem Pokal, Heike wollte ein Mannschaftsfoto „wie damals, aber mit Knie schonend“. Der Wirt, unsicher, ob er gerade Geschichte oder Klamauk bewirtete, brachte Likör. Die Runde beschloss, dass Kalorien keine Erinnerung haben.Später saßen Susanne und Harald nebeneinander auf der Bank, die Gespräche brummten im Hintergrund, und die Stille zwischen ihnen war weich wie ein alter Trainingsanzug. „Warum hast du’s wieder angezogen?“ fragte sie irgendwann. Harald dachte kurz nach. „Weil ihr’s mir damals leicht gemacht habt, ich zu sein, ohne dass ich wusste, wer das alles ist. Und weil ich sehen wollte, ob’s noch passt.“ „Passt“, sagte sie. „Sitzt. Steht dir.“ „Die Schürze diesmal auch.“ „Ja. Die auch.“ Sie lachten. Das Lachen von Menschen, die wissen, dass man nicht alles erklären muss. Manchmal reicht ein Kleidungsstück und ein Blick quer durch vier Jahrzehnte.Als der Abend die letzte Runde ausrief, wurden Nummern getauscht, Kalender gezückt, Terminhürden wie Hürden genommen. „Wir machen das jährlich“, sagte Heike. „Solange der Pokal nicht in Rente will.“ „Und der Trainer auch nicht“, ergänzte Ilse.Vor dem Fehnblick blieb Susanne stehen. „Also … bis spätestens in zwölf Monaten?“ „Spätestens“, sagte Harald. „Ich bestell das Dirndl dann rechtzeitig. Oder ich kauf’s. Dann spart man sich die Ausreden.“ „Andersrum ist man hier ja gewohnt“, sagte sie, und dieses Andersrum klang auf einmal nach Ort, Richtung und Lebensmotto zugleich.Sie umarmten sich. Kein großes Drama, nur das satte Einrasten eines alten Gefühls, das den Weg wiedergefunden hatte. Harald ging zum Fahrradständer (die E-Bikes tuschelten untereinander) und sah zurück. Susanne stand in der Tür und hob die Hand. Das Gasthausschild klirrte leise im Wind. Drinnen lachte jemand. Draußen roch es nach Wetter. In ihm rauschte der Sommer von damals kurz auf. Er stieg auf, fuhr los, und dachte, dass manche Geschichten keine Pointe brauchen. Es reicht, wenn sie weitergehen.Und irgendwo zwischen Fehn und Feld, wo der Wind die Richtung bestimmt und die Leute den Rest, dachte Harald, dass es schon komisch ist: Ausgerechnet in Andersrum lernt man, wie gutes tut, die Dinge ab und zu genau so zu drehen.Ende
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